Das leise Kratzen in der letzten Rille. Absurditäten aus dem Leben eines Taugenichts
1. Kapitel
Savicevic riss ein Magritte-Plakat von der Wand und warf es weg, denn es gefiel ihm nicht mehr. Man konnte seine Meinung ja auch mal ändern. Dann hängte er mit seinen drei T-Shirts eine Trikolore auf den Wäscheständer, dachte kurz nach und ging schließlich in die Küche, um ein Bier zu trinken. Er hatte sehr gut geschlafen.
Savicevic war achtundzwanzig Jahre alt und hatte dichte blonde Haare; im Nacken waren sie etwas länger und bogen sich zwei Hörnchen ähnlich hinter den Ohren hervor. Im linken Ohr trug er einen kleinen, silbernen Ring, den er eigentlich gerne loswerden wollte. Es war ihm aber zu lästig, ihn herauszunehmen. Seine Augen waren grüngrau.
Seit ein paar Monaten wohnte er in einem Bungalow am Ufer des Eau des Goûts, dem größten Strom der Föderativen Republiken Europas. Die Adresse war Franz K. Stanzel-Straße 1. In den achtziger Jahren hatte er durch Sportwetten ein großes Vermögen verdient, von dem er seither lebte. Besonders bei UEFA-Cup-Rückspielen von Werder Bremen hatte er den richtigen Riecher gehabt. Das Geld erlaubte es ihm, frei über seine Zeit zu bestimmen. Er war sehr glücklich über diesen Umstand, denn auf Arbeiten hatte er keine Lust – sein Leben war ihm wichtiger. Seine Zeit nutzte er vor allem dafür, ein, zwei Bier zu trinken, Platten zu hören oder mit seinen Tieren in die Disko zu gehen. Er hatte sich auf exotische Arten spezialisiert, da er mit Hunden nicht viel anfangen konnte und Hamster ihm leid taten. Seine Lieblingstiere waren Faultiere. Er selbst ähnelte ihnen insofern ein wenig, als er ziemlich oft im Bett anzutreffen war und in einem etwas unorthodoxen Rhythmus lebte, der ihm bisweilen Unannehmlichkeiten bescherte. Die meisten seiner Nachbarn waren nämlich Beamte, hassten Savicevics Vorliebe, spätnachmittags aufzustehen, und schrieben deswegen Beschwerdebriefe an die zuständige Behörde.
Montags um 6:30 Uhr kam dann immer Herr Sträuber vom Ordnungsamt und klingelte ihn aus dem Bett. Spätes Aufstehen sei unerlaubt; da könne ja jeder kommen, und das könne schwerwiegende Konsequenzen haben. Die Kostenzusageübernahmeerklärung sei unverzüglich einzureichen. Savicevic kannte solcherlei sinnlosen Müll nur aus dem Fernsehen, und da es obendrein viel zu früh für eine stringente Argumentation in drei Schritten war, entgegnete er nur kurz, aber treffend: „Arschloch!“ Damit schubste er ihn hinaus, knallte die Tür zu und legte sich wieder hin. Sträuber brüllte dann meistens irgendwelche unverständlichen Hassausdrücke und drohte schließlich damit, neben Savicevics Bungalow ein Atomkraftwerk bauen zu lassen – dies war die einzige Drohung, mit der man ihn beeindrucken konnte. Aufgebracht fügte er hinzu: „Nehmen Sie endlich eine ehrliche Arbeit auf! Sie liegen ja nur auf dem Lotterbett!“
Savicevic hörte von alldem jedoch nichts mehr, denn er war längst wieder eingeschlafen. Im Übrigen fand er keineswegs, dass er auf dem Lotterbett lag; er hatte genug damit zu tun, über alles Mögliche nachzudenken.
Die meisten seiner Tiere lebten direkt neben seinem Bungalow in einem dreistöckigen Gebäude, wo sie eine Art autonome Gemeinschaft gebildet hatten. Bei sich im Bungalow hatte Savicevic die Tiere einquartiert, zu denen er den persönlichsten Kontakt hatte. Es waren Gökhan, sein ältestes Faultier, Pynchon, ein Schwarzer Panther, die Kobra Topstar und M’Boma, ein afrikanisches Spitzmaulnashorn. Abgesehen von seinen Tieren hatte Savicevic zwei Freunde, die er allerdings nur selten zu Gesicht bekam, da sie weit weg wohnten: Es waren Brinkmann, ein stromaufwärts in K.-Stadt wohnender Physiker, der in jüngster Zeit die Absurdität des Lebens bewiesen hatte und dadurch berühmt geworden war, und der Fahrradmechaniker Abduschaparow.
Und dann gab es noch Lie. Savicevic dachte fast immer an Lie. Sie hatten sich bei einem schulübergreifenden Lesewettbewerb kennengelernt.