Ostrakon. Die Scherbenhüterin
Leseprobe aus Teil 2, Erez Ysrael, 60-68 n. Chr., Kapitel 2
Am Morgen darauf bat Jochanan Daya, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten. Verunsichert erhob sie sich von ihrem Platz an der Getreidemühle. Um diese Zeit gehörte sie an den Mahlstein, wusste er das nicht? Erst als Tante Ester ihr aufmunternd zunickte, lief sie ihren Kopfschleier holen. Warum wollte er sie bei sich haben? Befangen und mit gesenktem Kopf schritt sie neben ihrem Onkel her, der den direkten Weg zum Hafen einschlug. „Gibt es einen Platz in der Stadt, den du besonders magst?“, fragte er. Augenblicklich wies sie mit ausgestrecktem Arm hinunter zum See, der silbrig glänzend vor ihnen lag. Seevögel kreisten am wolkenlosen Himmel und stießen die vertrauten, kreischenden Laute aus. „Ah, der gute alte Kinneret“, sagte Jochanan mit einem zustimmenden Kopfnicken. „Was wäre der Galil ohne ihn? Ein ödes, graues Land ohne die Fülle an Farben, den Reichtum an Früchten und Leben. Ohne ihn wären wir längst verhungert, wie mir scheint. Wollen wir ihm einen Besuch abstatten? Zu lange habe ich ihn nicht aus der Nähe gesehen.“ Daya zögerte. Noch nie hatte sie jemanden an ihren Lieblingsplatz ans Seeufer mitgenommen. Aber es fühlte sich richtig an, nichts in ihr sträubte sich dagegen. Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, hielten sie auf, weil sie Jochanan begrüßten und Gespräche mit ihm anfingen, ihn Dinge fragten, deren Sinn Daya nicht verstand und sie wunderte sich über die gleichbleibende Freundlichkeit, mit der er auf ihr Drängen antwortete. Sie hörte, wie er die Leute zu einer Zusammenkunft ins Haus seiner Schwester einlud, noch am gleichen Abend, sobald die Sonne untergegangen sei. Daya wusste um die regelmäßig abgehaltenen Zusammenkünfte, denen auch Caleb und ihre Tanten bisweilen beiwohnten, und über die man im Haus nicht viel sprach. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, ihr Genaueres über deren Zweck zu erzählen oder sie gar gebeten, einmal mitzukommen.
Während sie dem Weg zum Ufer folgten, warf sie ihrem Onkel einen raschen Seitenblick zu. Offensichtlich bestand eine enge Verbindung zwischen ihm und den rätselhaften Zusammenkünften. Was für ein Mensch sich auch immer hinter seinem ausgezehrten Äußeren verbergen mochte, Daya fühlte sich auf eine Weise zu ihm hingezogen, die sie sich nicht erklären konnte.
Sie durchquerten das schattige Laubwäldchen, hinter dem sich jener Teilabschnitt des Ufers anschloss, den Daya am liebsten mochte. Die flache, nur wenige Schritte vom Ufer entfernte felsige Erhebung, die bisher ihr allein gehört hatte, bot genügend Platz für sie beide. Sie setzten sich, schwiegen, lauschten dem Wind, der über den See und mit einem sanften Raunen durch die Halme der Schilfrohre strich. Leise schwappte das Wasser ans steinige Ufer, überschwemmte die glatten Kiesel und brachte sie zum Glänzen. „Ein wunderschöner Ort.“ Dayas Herz hüpfte vor Freude, weil ihr Onkel ebenso empfand. „Ein Ort, an dem keine Worte nötig sind“, fuhr er fort, „deshalb magst du ihn, nicht wahr?“ Er suchte ihren Blick. Ein Nicken bestätigte seine Worte. „Und er mag dich ebenso.“ Sie lächelte. „Ein Ort, an dem für gewöhnlich nicht gesprochen wird.“ Er wandte sein Gesicht dem See zu. „Und doch kann es keinen besseren Platz geben, um von Menschen und Ereignissen zu sprechen, die es wert sind, sich ihrer zu erinnern.“ Daya verstand nicht, worauf er hinaus wollte. Er schwieg, und schien in Gedanken weit fort zu sein.
„Ich will dir etwas über deine Mutter erzählen, Daya.“ Seine Worte ließen sie unmerklich zusammenfahren. „Nur wenn du magst“, fügte er lächelnd hinzu, den Kopf zur Seite geneigt. Etwas Junggebliebenes haftete ihm an, trotz seines Alters und des struppigen, graubraunen Bartes. Sie mochte ihn, weil sie spürte, dass er es gut mit ihr meinte. Die Angst flog davon. „Vielleicht haben dir andere Menschen Dinge über sie erzählt, meine Schwester Merab möglicherweise.