Heeeeej, jeder vernünftige und vorbildhaft diskrete Mensch würde sich wünschen, eine derartige Szene nicht miterleben zu müssen – noch größeres Mitgefühl gebührt daher dem Herrn Kellner, denn niemand weiß, womit er Öl ins Feuer gießt und womit er es löscht, vielleicht genügt eine ironische Bemerkung, vielleicht braucht es eine Ablenkung, vielleicht aber hilft überhaupt nichts und er muss abwarten, dass die Erregung verebbt und die Trunkenheit schließlich abflaut. Der Herr Kellner, weder tot noch tumb, erkannte das Prekäre der Situation und verabschiedete sich mit einem kurzen, aber überaus dehnbaren lassen Sie sich Zeit, ich komme etwas später, um die Bestellung aufzunehmen, Boris, der arme Kerl, sah mich entschuldigend an und drückte mir die Hand, er bemühte sich, uns aus der ganzen Sache herauszubugsieren. Seiner Mutter schlug er einen kleinen Spaziergang um das Restaurant vor, dahinter befinde sich ein herrlicher Park mit Brunnen, sicher werde er ihr gefallen, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trüge, hatten sie sogar einen Fischteich mit ausnehmend teuren und empfindlichen Goldfischen aus Japan. Wer hätte das gedacht, aber die Frau Juristin ergab sich nicht, das kalmierende Angebot ihres Sohnes machte sie noch gereizter, unter den trägen Lidern glänzten blutunterlaufene Augen, die mich unverblümt anstarrten. Ich sank in meinem Festkleid zusammen, eine gefallene Prinzessin vor der gefallenen Königin. In einem neuen Anlauf, den sie mit einem neuen Glas Wein befeuchtete, schrie sie uns – den beiden bekannten Personen und mir, der völlig unbekannten Person, die bisher für sie nur in mündlicher Überlieferung existiert hatte – die unterschiedlichsten Vorwürfe ins Gesicht, deren Wahrheitsgehalt ich leider nicht zur Gänze überprüfen kann, die aber dennoch überaus besorgniserregend sind: • ihr Gatte betrüge sie schon zweiunddreißig Monate mit einer achtzehn Jahre jüngeren Mitarbeiterin aus der Anwaltskanzlei, die eine üppige Oberweite und lange Beine habe, genau wie ich; • sie sei überzeugt, dass ihr Sohn sie ausnutze, in den letzten vierzehn Monaten habe er sie neun Mal um ein Darlehen gebeten, das fünfhundert Euro überstieg; sie weise mich darauf hin, dass ich ein Verhältnis mit einem Mann habe, der auf Kosten seiner Mutter lebt; • niemand nehme sie ernst, weil sie in der Menopause sei; • aus Gram über die Untreue des Gatten trinke sie in der Woche bis zu zehn Flaschen Wein, es schmerze sie, dass niemand ihren Hilferuf bemerke; wenn sie es recht überlege, gebe es niemanden, der das überhaupt bemerke, denn sie sei tief vereinsamt. Tja, der Ausbruch machte auf die Belegschaft des Restaurants großen Eindruck, für einige Sekunden verstummten das Klirren der Gläser und Bestecke und die Geschäftigkeit der Kellner. Die beleidigte Juristin wurde unverhohlen angegafft, dem nun folgenden Spießrutenlauf entgingen auch ich und Boris nicht. Ich glaube, dass wir uns alle, selbst die angesehene Juristin, auf eine Reihe taktischer Vermeidungen, Umgehungen und Verdrängungen vorbereitet hatten, aber auf eine exzessive Wahrheitsliebe gestoßen waren, die jegliche Gesellschaftsfähigkeit überstieg.