Zu Hause ist überall
Unsere Familie wohnte in Schönberg. Heute findest du diesen Namen nicht mehr auf der Landkarte. Nur auf den alten Karten ist er noch zu entdecken, auf denen, die vor 1945 entstanden. Es ist ein schöner Landstrich. Aber die Erde brannte hier schon immer. Friedrich II. von Preußen und Maria Theresia von Österreich trugen hier ihre Kämpfe aus. Und schon damals ging alles in Flammen auf, all die großen Ansitze und die Kirchen.
Als wir gehen mussten, war ich noch klein. Und ich war immer hungrig. Was hat mir das für Geschichten eingebrockt! Als hätte ich ein Loch im Bauch, immer wollte ich etwas essen. Und manchmal habe ich etwas genommen, das nicht für mich bestimmt war. Dann setzte es Strafen. Aber irgendwie habe ich das immer wieder hingekriegt. Daran kann ich mich noch erinnern. Das bisschen, was ich noch weiß. Bevor wir gehen mussten und Vater starb. Vielleicht war ich sieben Jahre alt. Ja, ich glaube, ich war sieben.
Ich erinnere mich an meine kleine Stadt Schönberg. Ein Städtchen, rundum Hügel, in der Ferne die hohen Berge, ein Schloss und ein mittelalterlicher Stadtkern, Kopfsteinpflaster und Lehmstraßen. Wenn es regnete, gab es riesige Pfützen. Wir haben es Schönberg genannt. Aber wir waren ja auch Deutsche. Mit den Tschechen haben wir nicht geredet. Mit denen redete man nicht. Auch nicht, wenn sie das Haus sauber machten oder für einen einkaufen gingen. Wir konnten ihre Sprache nicht sprechen, wir verstanden sie nicht einmal. Aber sie konnten unsere Sprache sprechen. Als wir weg waren, wurde aus dem deutschen Schönberg das tschechische Šumperk, mit diesem Häkchen über dem S.
Und dann gab es diese riesigen Fabriken in der Stadt und an deren Rande. Das waren hohe mehrstöckige Häuser, viel zu große Häuser, voller kleiner Fenster. Tausende Menschen arbeiteten hier. Sie webten feines Tuch, das dann an die noblen Hotels und die großen Schiffe verkauft wurde. Tischtücher, Bettbezüge, weiß und glänzend und wunderbar anzufassen. Berühmte Schiffe wie die Ozeandampfer der Hapag wurden damit ausgestattet. Und ganz Österreich belieferten sie, diese Tuchmacher aus dem Sudetenland. Einer davon war mein Vater. Ich glaube, mehr als tausend Menschen arbeiteten allein in seiner Fabrik.
Dass wir reich waren, hatte ich eigentlich nicht richtig begriffen. Ich wuchs in einer wunderschönen Villa auf, das ja. Sie hatte einen großen Garten. Aber so ein großer Garten ist langweilig, wenn man ganz allein darin ist. Und ich war sehr viel allein. Papi verjagte die Kinder und die Katzen. Meine beiden Bruder Theo und Walter waren deutlich älter als ich, Theo zehn und Walter neun Jahre. Theo war der Große und kümmerte sich kaum um mich. Er studierte schon, da hatte er keine Zeit für ein kleines Mädchen wie mich. Meistens kam ich aber gut mit ihm aus. Walter beschäftigte sich mehr mit mir. Aber darauf hätte ich auch gerne verzichtet. Dauernd heckte er irgendetwas aus. Manchmal waren seine Streiche derb. Vielleicht war er ja eifersüchtig, ich weiß es nicht.
Einmal, da nahm er mich durch den Zugang für die Kaminkehrer mit aufs Dach. Und dann sperrte er ab und ließ mich da oben allein. Bis alle aus dem Haus unten zusammenliefen, weil sie nach mir suchten. Das Haus war nicht leer. Ich hatte Kindermädchen und es gab Bedienstete. An die meisten erinnere ich mich kaum. Eines der Mädchen war besonders grob und Schläge waren an der Tagesordnung. Nur an Herti erinnere ich mich gerne, Herta Wimmer. Sie liebte ich sehr. Sie war wie eine Mutter für mich. Ich hatte ja keine Mutter mehr. Meine war weggegangen, da war ich erst ein Jahr alt. Herti war lieb und gefühlvoll. Und sie hörte mir zu. Und manchmal spielten wir sogar etwas miteinander. Aber dann war auch Herti weg. Mein Vater hatte auch sie vertrieben. Dabei war sie doch gar nicht schuld.